„Die Verlässlichkeit der Zeugenaussagen von Apostaten über neue religiöse Bewegungen“ von Lonnie D. Kliever

I.Beruflicher Werdegang
Ich erhielt 1955 einen Bachelor of Arts magna cum laude in Psychologie von der Hardin-Simmons Universität. Ich schloss 1959 das Masterexamen cum laude am Union Theological Seminar in New York ab. Ich erhielt 1963 einen Doktor der Philosophie in Religion und Philosophie von der Duke Universität.

Ich habe zunächst in der Zeit von 1962–65 ein vollzeitliches Amt an der Philosophischen Fakultät der Universität von Texas in El Paso ausgeübt; 1965–69 stieg ich zum Rang eines außerordentlichen Professors an der Fakultät für Religion an der Trinity Universität in San Antonio auf; 1969–75 war ich an der Fakultät für Religiöse Studien an der Universität von Windsor in Ontario, Kanada, wo ich zum Rang eines ordentlichen Professors aufstieg. Seit 1973 bin ich ordentlicher Professor für Religionswissenschaft an der Southern Methodist Universität, wo ich 1975–86 und von 1993 bis heute als Fakultätsvorsteher der Abteilung für Religiöse Studien tätig bin.

Ich bin ein langjähriges vollberechtigtes Mitglied der Amerikanischen Vereinigung der Universitätsprofessoren, der Amerikanischen Akademie für Religion, der Gesellschaft für Wissenschaftliche Studien von Religion, der Amerikanischen Theologischen Gesellschaft, der Kanadischen Gesellschaft für das Studium von Religion, der Kanadischen Theologischen Gesellschaft sowie des Konzils für das Studium von Religion; ich habe nationale Ämter innegehabt, stand professionellen Komitees vor und diente in redaktionellen Gremien der meisten dieser professionellen Vereinigungen.

Ich bin Religions- und Kulturphilosoph mit spezieller Qualifikation in den Religionen der modernen Zeit. Als solcher befasse ich mich hauptsächlich mit den wechselnden Formen religiösen Glaubens und religiöser Praxis, sowohl bei althergebrachten als auch den neueren religiösen Bewegungen, mit denen ältere und neuere Religionen auf die Herausforderungen und den Wechsel des modernen Lebens antworten. Ich gebe an der Southern Methodist University regelmäßig eine Vielzahl von Kursen in vergleichenden, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Religionsstudien für Studenten der Anfangs- wie der fortgeschrittenen Semester. Ich führe ebenfalls ein kontinuierliches Programm wissenschaftlicher Forschung und Veröffentlichungen auf meinem Spezialgebiet durch und habe fünf Bücher veröffentlicht, die sich mit modernem religiösen Denken auseinandersetzen: Radical Christianity (1968), H. Richard Niebuhr (1977), The Shattered Spectrum (1981), The Terrible Meek: Essays on Religion and Revolution (1987) und Dax’s Case: Essays in Medical Ethics and Human Meaning (1989), und ich habe zahlreiche Artikel in solch führenden wissenschaftlichen Zeitschriften wie Harvard Theological Review, Journal of Religion, Journal of the American Academy of Religion, Studies in Religion, Religion in Life, Religious Studies Review und Journal for the Scientific Study of Religion veröffentlicht.

Ich habe als Fachmann für moderne Religionen eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Scientology Kirche abgeschlossen. Ich habe die meisten der hauptsächlichen theoretischen Texte gelesen, die von L. Ron Hubbard geschrieben und veröffentlicht worden sind; ich habe viele der von Mr Hubbard und den verwaltungstechnischen sowie kirchlichen leitenden Mitarbeitern vorbereiteten technischen und administrativen Bulletins geprüft; und ich habe repräsentative Beispiele von Unterrichtsmaterialien, die von Lehrern und Studenten in verschiedenen von der Kirche angebotenen Kursen verwendet werden, geprüft. Auch habe ich eine Vielzahl journalistischer und wissenschaftlicher Studien über die Scientology Kirche gelesen. Zusätzlich habe ich mich mit praktizierenden Scientologen unterhalten und in New York City ihre Kirche in der 46. Straße und das Celebrity Centre in der 82. Straße besucht, ebenso ihre Flag Service Organization in Clearwater, Florida, und ihr Celebrity Centre in Dallas.

II.AUFTRAG
Ich bin von der Scientology Kirche gebeten worden, meine fachmännische Meinung über zwei umfassende Themen abzugeben: (1) Apostasie bei neuen religiösen Bewegungen und (2) die Verlässlichkeit der Berichte von Apostaten über ihren früheren religiösen Glauben und dessen Praktiken. Diese zwei Fragen sind von entscheidender Wichtigkeit für ein richtiges Verstehen der neuen religiösen Bewegungen, weil sich Enthüllungsberichte in den Medien und sogar wissenschaftliche Untersuchungen über nicht herkömmliche religiöse Bewegungen oft auf solche Apostaten als zuverlässige Informanten über ihre früheren Konfessionen berufen. Darüber hinaus hat eine begrenzte Zahl von Apostaten Schadenersatzklagen erhoben, in denen sie verschiedentlich ihre früheren religiösen Gemeinden irreführender und unaufrichtiger Praktiken oder körperlichen und emotionalen Zwangs beschuldigen. Im Gegenzug dienten diese Prozessführenden oft als Expertenzeugen in anderen Fällen, die gegen neue Religionen entweder durch Regierungsbehörden oder durch feindselige Dissidenten angestrebt worden waren.

Die besondere Aufmerksamkeit, die die Medien den Apostaten neuer religiöser Bewegungen sowie ihren Schadenersatzklagen wegen angeblich erlittener Schäden durch ihre frühere religiösen Gruppe einräumen, bewirkt einen tiefgreifenden Wandel in der öffentlichen Einstellung gegenüber Apostaten und ihrer Behandlung in diesem Jahrhundert. Apostaten wurden in der Vergangenheit wegen der Aufgabe ihres Glaubens rundum verurteilt. Tatsächlich wurde die Strafmaßnahme, die von der zurückgewiesenen religiösen Gruppe gegen den Apostaten ergriffen wurde, oft durch die Staatsmacht verstärkt. In den letzten Jahren ist es hingegen eher so, dass der Apostat Strafmaßnahmen gegen die religiöse Gruppe ergreift, gelegentlich mit gesetzlicher Unterstützung. Apostaten von neuen religiösen Bewegungen werden aufgrund der unfreundlichen negativen Geschichten, die sie über ihre religiöse Vergangenheit erzählen, oft eher als Opfer gesehen denn als Verräter. Aber die Frage bleibt, ob diese Darstellungen von Apostaten verlässliche Berichte über ihre vergangenen religiösen Verbindungen und Aktivitäten sind.

Das besondere Interesse der Scientology Kirche an der Frage der Zuverlässigkeit von Apostaten basiert auf der Tatsache, dass sie das Angriffsziel von „Enthüllungen“ in den Medien und von Zivilprozessen geworden ist, die von Apostaten stammen. Im Vorgriff auf die nachfolgende umfassende Erörterung bin ich aufgrund meiner eigenen professionellen Ausbildung und wissenschaftlichen Forschung überzeugt, dass der Apostat durch die Massenmedien, die wissenschaftliche Gemeinde, das Rechtssystem oder die Regierungsbehörden nicht kritiklos als eine zuverlässige Informationsquelle über neue religiöse Bewegungen akzeptiert werden sollte. Der Apostat muss immer als Einzelperson betrachtet werden, die dafür prädisponiert ist, eine voreingenommene Darstellung des religiösen Glaubens und der Praktiken ihrer früheren religiösen Verbindungen und Tätigkeiten abzugeben.

III.Apostasie in der Vergangenheit
Der Ausdruck „Apostasie“ ist eine Umschreibung des griechischen apostasia, was ursprünglich Auflehnung oder Abtrennung bedeutete. Im religiösen Kontext bedeutet er die bewusste Aufgabe der eigenen Religion. Apostasie ist eng verbunden mit Ketzerei, bei der die Ablehnung des strengen Glaubens wegen abweichender Glaubensvorstellungen und Praktiken innerhalb einer gegebenen Religion als kategorische Verleugnung wahrer Religion gesehen wird. Apostasie als solche muss als ein öffentliches Ereignis verstanden werden, nicht als ein privates. Apostasie ist keine Angelegenheit privater religiöser Zweifel oder aufgegebener religiöser Praktiken. Apostasie ist eine öffentliche Abkehr vom eigenen früheren religiösen Glauben und seiner Praktiken und die Verurteilung dieses Glaubens. Der Apostat gibt oft eine Religion für eine andere auf, wendet sich manchmal aber auch ganz von Religion ab.

III.I. Apostasie im hellenistischen Judentum
Die hebräische Bibel verurteilt streng die Apostasie der antiken Israeliten als Gesamtvolk, das immer und immer wieder auf die polytheistische Religion und Kultur zurückfiel, aus der es hervorgegangen ist. Aber die ersten Fälle individueller Apostasie ereigneten sich während der Herrschaft von Antiochus Epiphanes (ca.175–164 v. Chr.), als viele Juden durch diesen heidnischen Herrscher gezwungen wurden, ihre Verehrung Gottes zu Gunsten griechischer Götter aufzugeben. In der Folge zeigte sich die jüdische Religion und Kultur durchaus anfällig für die Versuchungen der hellenistischen Kultur, bis es im Makkabäeraufstand gelang, das jüdische Gesetz und den jüdischen Nationalismus wiederherzustellen. Sporadische Apostasie kam weiterhin vor, doch traf solche Abkehr vom jüdischen Gesetz innerhalb der jüdischen Gemeinde auf schärfste Verurteilung.

Den Juden wurde später unter römischer Herrschaft erlaubt, ihre Religion unter der nominellen politischen Herrschaft einer jüdischen Tetrarchie frei zu praktizieren. Sektenbewegungen hatten während dieser Zeit großen Zulauf, keine mächtiger als die christliche Bewegung, die sich selbst im Laufe der Zeit völlig vom Judentum trennte. Sektenanhänger und Christen wurden als Apostaten verurteilt. Darüber hinaus wurde solche Apostasie sowohl in politischer wie in religiöser Hinsicht verurteilt, weil bei den Juden Religion und Staatsangehörigkeit eins waren. Apostasie wurde als ein Verbrechen gegen den Staat und als eine Sünde gegen Gott angesehen. Dem Apostaten wurden sowohl die Erlösung als auch die Staatsangehörigkeit verweigert.

III.II. Apostasie in heidnischen Religionen
Allgemein war der Ausschließlichkeitsgedanke den griechischen und römischen Religionen angesichts ihrer polytheistischen Natur fremd. Die heidnischen Kulte schlossen Mitglieder nicht aus, die an rivalisierenden religiösen Traditionen und philosophischen Kreisen festhielten. Aber oft wurden die Götter heidnischer Religionen von den staatlichen Institutionen offiziell anerkannt und mit dem Wohlbefinden des Staates gleichgesetzt. In solchen Fällen traf das Aufgeben politisch sanktionierter Religionen auf öffentliche Kritik und sogar staatlich geförderte Verfolgung. Im griechischen Osten wurden Christen wegen Gottlosigkeit verurteilt, denn sie lehnten die Götter des Volkes ab. Im lateinischen Westen wurden Christen wegen Aufgabe der Religion ihrer Vorfahren angeklagt. Bei beiden Anklagen wurden die frühen Christen, die sich weigerten, den bürgerlichen Göttern Achtung zu erweisen, verachtet und oft wegen Auflehnung gegen den Staat verfolgt. Kurz gesagt, in der heidnischen Gesellschaft wurde Apostasie nur dann ein Problem, wenn ihr Ahnenkult oder ihre staatlichen Götter abgelehnt wurden.

III.III. Apostasie in der christlichen Kirche
In der Anfangszeit des Christentums befolgten viele gerade bekehrte Juden weiterhin das jüdische Ritualgesetz, und bekehrte Heiden nahmen immer noch an heidnischen religiösen Festen teil. Zuerst wurde das Festhalten an alten religiösen Bräuchen nicht als Apostasie angesehen. Apostasie wurde erst zum Problem, als sich die christliche Kirche selbst von jüdischen und gnostischen Formen des Christentums trennte. Schon im Neuen Testament wird Apostasie mit den falschen Lehrern und Propheten in Verbindung gebracht, deren Erscheinen das apokalyptische Ende des Zeitalters anzeigen würde. In den frühen Jahrhunderten war Apostasie hauptsächlich ein internes Problem, als sich das orthodoxe Christentum von ketzerischen und schismatischen Bewegungen trennte. Aber mit der Bekehrung Konstantins wurde Apostasie ein strafbares zivilrechtliches Vergehen. So begann eine tausendjährige partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat. Der Staat gebrauchte die Macht des Schwertes, um die Kirche gegen Apostasie zu schützen, und die Kirche gebrauchte die Macht der Bibel, um den Staat gegen Aufruhr zu schützen. Apostaten wurden sowohl ihre bürgerlichen als auch ihre religiösen Rechte entzogen.

Offene Abkehr vom christlichen Glauben war selten, wo das Bündnis zwischen Kirche und Staat fest war, aber sogar verdeckte Apostaten-Bewegungen wurden aktiv unterdrückt. Folter wurde großzügig angewandt, um Geständnisse zu bekommen und Betroffene zum Widerrufen zu bewegen. Apostaten und Schismatiker wurden von der Kirche exkommuniziert und vom Staat verfolgt.

In der Geschichte des Christentums fand auch im großen Rahmen Apostasie statt. Die sogenannte „große Kirchenspaltung“ im 8. Jahrhundert zwischen der östlichen orthodoxen Kirche und dem westlichen Katholizismus kennzeichnete die erste große Spaltung innerhalb der Christenheit, die zu gegenseitiger Exkommunikation führte. Die protestantische Reformation im 16. Jahrhundert entzweite Christen gegen Christen noch weiter. Jede Sektengruppe behauptete, sie hätte den authentischen Glauben und die ursprüngliche Ausübung der Kirche des Neuen Testaments wiederentdeckt, und degradierte somit rivalisierende Varianten des Christentums zu Apostaten.

Ferner wandten jene protestantischen Kirchen, die sich eines Gebietsmonopols erfreuten, die Waffen einer religiös motivierten Exkommunikation und einer politisch geförderten Verfolgung gegen diejenigen an, die in Konkurrenz zu ihnen den Anspruch eines authentischen Christentums erhoben. Erst mit dem Ende der Religionskriege und der Inkraftsetzung der Toleranzedikte fand die aktive politische Unterdrückung der Apostasie ein Ende. Formelle und informelle religiöse Sanktionen wurden aber weiterhin auferlegt; sie reichten von Exkommunikation und Enterbung bis zu Tadel und Meidung.

Wie dieser kurze Überblick zeigt, hat die Verurteilung von Apostaten in der Vergangenheit jenen Religionen als „Legitimationsstrategie“ gedient, die den Anspruch erhoben haben, als einzige Religion über den wahren religiösen Glauben und die wahre religiöse Praktik zu verfügen. Wo auf nationaler und territorialer Ebene politische und religiöse Loyalität verschmolzen waren, wurden gegen die Apostasie sowohl gesetzliche als auch religiöse Strafmaßnahmen verhängt. Dem Apostaten wurden sowohl seine Staatsangehörigkeit als auch seine Möglichkeit zur Erlösung entzogen. Der Apostat wurde somit als ein Verbreiter von Lügen und Unmoral angesehen, der die Reinheit der religiösen Gemeinde und die Stabilität der politischen Ordnung bedrohte.

In dem Maße, wie religiöse Traditionen ihre dogmatischen Ansprüche aufweichten und weltliche Gesellschaften sich von religiöser Parteinahme trennten, wurde Apostasie in der modernen Welt immer weniger ein Problem. Die Akzeptanz religiöser Vielfalt und die Privatisierung religiösen Glaubens in diesem Jahrhundert befreiten jene, die ihre Religion wechseln, weitgehend von der gesetzlichen und religiösen Anrüchigkeit des Apostaten. Natürlich behält sich die römisch-katholische Kirche noch die Waffe der Exkommunikation vor, protestantische Fundamentalisten verdammen lautstark die Gefahren der Ketzerei und gelegentlich sagen sich fromme Familien von ihren Kindern los, weil diese außerhalb ihres Glaubens heiraten oder zu einer anderen Religion konvertieren. Aber diese Sanktionen haben nicht mehr die öffentliche oder private Bedeutung, die sie einst hatten. Sie sind die rituellen Gebärden religiöser Dogmatiker, die in pluralistischen und weltlichen Kulturen ihre einst unbestrittene Autorität verloren haben.

IV.Apostasie in der Gegenwart
Apostasie ist in den letzten dreißig Jahren sowohl in der Öffentlichkeit als auch in privaten Kreisen wieder zu einem Problem geworden, obgleich die Behandlung der heutigen Apostaten, wie oben erwähnt, wenig Ähnlichkeit mit der Weise zeigt, wie Apostaten in der Vergangenheit betrachtet wurden. Seit den 1960er-Jahren sind in allen modernen, demokratischen Gesellschaften eine Vielzahl von neuen religiösen Bewegungen aufgetaucht. Viele dieser religiösen Minderheitsbewegungen stellen „totalisierende“ Forderungen an ihre Mitglieder, beanspruchen volle Hingabe in Bezug auf ihre Lehren und uneingeschränkte Hingabe für ihre religiöse Gemeinde. Andere neue Religionen fordern nicht von allen Mitgliedern ein völliges Vertiefen in ihr Gemeindeleben und ihre Mission, verlangen aber ein striktes Befolgen dogmatischer, ethischer und ritueller Vorgaben. Natürlich weichen die Glaubensüberzeugungen und Praktiken aller neuen Religionen von denen der vorherrschenden Religionen ab. Es überrascht nicht, dass aufgrund dieser strikten Forderungen einige von denjenigen, die darin verwickelt wurden, bald entschieden, dass eine bestimmte religiöse Bewegung nichts für sie war, und sie verließen. Ihr Weggehen erregt gewöhnlich kein Aufsehen, weil die meisten involvierten Personen ihre vergangene Erfahrung als positiv ansehen, als einen weiteren Schritt auf ihrer eigenen spirituellen Reise.

Aber im Gegensatz dazu sind unter jenen, die freiwillig weggehen, einige Abtrünnige, die traurige Berühmtheit erlangt haben, indem sie ihre früheren religiösen Vereinigungen und Aktivitäten in der Presse und vor Gericht öffentlich angriffen. Als willkommene Informationsquelle für eine Öffentlichkeit, die wegen dieser neuen unbekannten Religionen sowohl neugierig als auch ängstlich ist, werden solche Apostaten oft als Cause cé­lè­b­re anstatt als sozial Ausgestoßene behandelt. Aber wie wir im Weiteren sehen werden, kann man weder das ruhige, verständnisvolle frühere Mitglied noch den lautstarken gekränkten Apostat einer neuen religiösen Bewegung als objektiven und zuverlässigen Interpreten jener religiösen Bewegung, der er früher angehörte, ansehen.

IV.I. Arten des Ausscheidens
Es gibt einen weitverbreiteten Irrglauben in der allgemeinen Öffentlichkeit, dass nur wenige Weggänge von neuen religiösen Bewegungen freiwillig sind und positive Erfahrungen darstellen. Die Ansicht über neue Religionen als stark reglementierte Gruppen, die die Gedanken und Handlungen ihrer Mitglieder durch eine Vielzahl von Techniken zur „Manipulation des Denkens“ kontrollieren, ist dank der Fixierung der Medien auf die Schreckensgeschichten früherer Mitglieder und dank der Propaganda der Anti-Sekten-Gruppen in der öffentlichen Vorstellung tief verwurzelt. Sogar viele frühe wissenschaftliche Beschreibungen neuer religiöser Bewegungen verewigten diese irrtümliche Auffassung, indem ihre Studien nahezu vollständig auf Apostaten basierten, die entweder durch Zwangsdeprogrammieren oder durch unfreiwillige Krankenhauseinweisung gewaltsam von ihren früheren religiösen Verbindungen getrennt worden sind. Aber eine Anzahl kürzlich erstellter wissenschaftlicher Studien (z. B. James A.Beckford, Cult Controversies: The Societal Response to New Religious Movements, London: Tavistock Publications, 1985; Stuart A.Wright, Leaving Cults: The Dynamics of Defection, Washington, D. C.: Society for the Scientific Study of Religion, 1987) haben klar gezeigt, dass es zwei sehr unterschiedliche Arten der Apostasie gibt, die wiederum zu zwei sehr unterschiedlichen Beurteilungen neuer religiöser Bewegungen durch Apostaten in Beziehung stehen.

Nur bei einem kleinen Teil der Abtrünnigkeit von neuen religiösen Bewegungen ist die Apostasie erzwungen. Gewaltsame Bemühungen, eine bestimmte Person vor einer neuen religiösen Bewegung zu „retten“, werden stets von Außenstehenden eingeleitet. Verwandte, die gegen jemandes Engagement in einer neuen Religion sind, werden mit einem doppelten Problem konfrontiert – warum ist diese Person beigetreten und wie kann man diese Person von jener Religion trennen.

Die erste Frage wird normalerweise durch eine „Gehirnwäsche“-Erklärung beantwortet, welche ihrerseits wieder eine „Deprogrammierungs“-Lösung für das zweite Problem rechtfertigt. Das Gehirnwäscheszenario „erklärt“, wie ein zu einer neuen Religion Bekehrter dazu kommt, Glaubensbekenntnisse und Praktiken zu akzeptieren und zu verteidigen, die für den Außenstehenden derart absurd zu sein scheinen. Die fragliche Person wird als das Opfer von allerlei psychologischen und soziologischen Techniken der Manipulation des Denkens gesehen. Angesichts dieser Tatsache ist das einzige Mittel zur Rettung jener Person eine dramatische Form des Eingreifens, die die Person von solchem Zwang befreit. Rückgriff auf gewaltsames Kidnapping und Entprogrammierung oder auf gesetzliche Vormundschaft und Krankenhauseinweisung werden als Methoden gerechtfertigt, die notwendig sind, irregeleitete und manipulierte Anhänger der neuen Religionen vor sich selbst zu retten. In der einen oder anderen Form sind Behauptungen über Gehirnwäsche und Rechtfertigungen von Entprogrammierung die Grundlage aller derartigen „Rettungsoperationen“.

Derart genötigte Apostaten haben aufgrund ihrer großen Sichtbarkeit in Medienenthüllungen und Gerichtsverfahren gegen ihre früheren Gefährten dazu beigetragen, die Auseinandersetzung zu fördern, die die neuen religiösen Bewegungen umgibt. Ihre Verfügbarkeit als „Sektenüberlebende“ macht sie zur Spitzenmeldung für die Medien, was oft die einzige Information über neue religiöse Bewegungen ist, die für die allgemeine Öffentlichkeit verfügbar ist. Die logische Beziehung zwischen Gehirnwäsche und Entprogrammierung wirkt an diesem Punkt der Entwicklung umgekehrt. Schon die Tatsache, dass das Entprogrammierungsverfahren „funktioniert“, wird durch bekümmerte Außenstehende wie auch einige frühere Mitglieder als Beweis genommen, dass das Gehirnwäscheszenario wahr ist. Der plötzliche und drastische Wechsel in ihrem Glauben und Benehmen, hervorgerufen durch die Entprogrammierung, wird als klarer Beweis dafür angesehen, dass die zurückgewonnene Person eigentlich das Opfer, wenn nicht gar der Gefangene einer böswilligen Religion war. Die Tatsache, dass sie „ihren Lieben zurück haben“, drängt Verwandte ferner dazu, anderen zu helfen, „ihre Kinder zurückzubekommen“, indem sie ihre Geschichte veröffentlichen und die Anti-Sekten-Organisationen unterstützen, die ihnen geholfen haben. Auf diese Weise haben ein kleiner Prozentsatz von Apostaten und ihre „Retter“ die Sichtweise der Öffentlichkeit im Hinblick auf alle Abtrünnigen aus neuen religiösen Bewegungen geformt (oder passender, verformt).

Im Gegensatz zur öffentlichen Meinung ist die überwiegende Mehrheit der Abtrünnigen bei neuen religiösen Bewegungen eine Angelegenheit freiwilliger Apostasie. Darüber hinaus spricht die klare Mehrheit jener, die aus freien Stücken gehen, positiv über bestimmte Aspekte ihrer vergangenen Erfahrung. Während sie ohne Weiteres erklären, inwiefern die jeweilige religiöse Bewegung ihre persönlichen Erwartungen und spirituellen Bedürfnisse nicht erfüllt hat, sehen viele freiwillige Abtrünnige doch immer noch einige positive Eigenschaften in ihren vorhergehenden religiösen Vereinigungen und Aktivitäten.

Jedoch gibt es einige freiwillige Apostaten aus neuen religiösen Bewegungen, die stark verbittert und sehr kritisch gegenüber ihren früheren religiösen Vereinigungen und Aktivitäten sind. Das Kräftespiel ihrer Trennung von der einst geschätzten religiösen Gruppe ist vergleichbar mit einer verbitterten ehelichen Trennung und Scheidung. Beides, Ehe und Religion, erfordern ein bedeutendes Maß an Hingabe. Je größer das Engagement, desto traumatischer die Trennung. Je länger die Hingabe andauerte, desto größer ist die Notwendigkeit, den anderen für die gescheiterte Beziehung zu beschuldigen. Mitglieder, die bei einer neuen religiösen Bewegung lange und stark engagiert waren und im Laufe der Zeit von ihrer Religion enttäuscht werden, geben oft ihren früheren Vereinigungen und Aktivitäten die ganze Schuld. Sie vergrößern kleine Schwächen zu enormen Sünden. Sie wandeln persönliche Enttäuschungen in böswilligen Verrat um. Sie werden sogar unglaubliche Lügen erzählen, um ihrer früheren Religion zu schaden. Da überrascht es nicht, dass diese Apostaten sich oft nachträglich auf das gleiche Gehirnwäsche-Szenario berufen, das gewöhnlich ins Feld geführt wird, um gewaltsame Loslösung von neuen religiösen Bewegungen zu rechtfertigen.

IV.II. Taktiken zum Wiedereintritt
Die Loslösung von früheren religiösen Verbindungen und Aktivitäten ist nur der halbe Prozess dabei, seinem Glauben an eine neue religiöse Bewegung abzuschwören. Dem Apostaten, sei es freiwillig oder gezwungenermaßen, steht die schwierigere Aufgabe der Rückkehr zur dominanten Kultur und der Neudefinition einer neuen Identität und Weltanschauung bevor. Wiedereintritt bedeutet selten einfach Rückkehr zum vorherigen Lebensstil und zu der Weltanschauung, die man vor dem Beitritt zu der neuen religiösen Bewegung hatte. Der „verlorene Sohn“ kehrt als ein anderer Mensch zurück, bringt eine ganze Reihe von Erfahrungen mit, die irgendwie erklärt oder in eine neue psychologische und gesellschaftliche Situation eingebunden werden müssen. Dieser Wandel wird oft durch Familiensysteme, soziale Netzwerke, religiöse Gruppen, Bildungssysteme und Anti-Sekten-Organisationen beeinflusst. Es überrascht nicht, dass der Einfluss dieser Gruppen die Darstellung des Apostaten über seine vergangenen religiösen Aktivitäten und Verbindungen stark beeinflusst.

Ungeachtet der Art ihres Abschiedes müssen Apostaten sowohl ihren früheren Übertritt zu einer nicht-traditionellen religiösen Bewegung als auch die anschließende Trennung von ihr verarbeiten. Sie erhalten die Selbstrechtfertigung, die sie suchen, oft von Anti-Sekten-Organisationen oder fundamentalistischen religiösen Gruppen, die ihnen die Gehirnwäsche-Erklärungen liefern, um sowohl ihre plötzliche Anhänglichkeit wie auch ihr plötzliches Aufgeben der neuen religiösen Bewegung zu begründen. Die von diesen Gruppen gelieferten Informationen sind gewöhnlich besonders negativ und stark gegen die Organisation eingestellt, die verlassen wurde. Genauer gesagt, versorgen diese Gruppen sie mit einer Lingua franca, um ihre Geschichten der Verführung und Befreiung zu erzählen. Zahlreiche Sozialwissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass diese Biographien des „Überlebens einer Sekte“ hochgradig stilisierte Berichte sind, die den Einfluss übernommener Szenarien der Geiselhaft und Befreiung verraten – jeder Bericht eine einstudierte Geschichte gesellschaftlicher Isolierung, emotionaler Beeinflussung, körperlicher Entbehrung, wirtschaftlicher Ausbeutung und hypnotischer Kontrolle. Diese „Grausamkeitsgeschichten“ dienen sowohl der Entschuldigung des einzelnen Apostaten wie der Beschuldigung der neuen Religion wegen irrationalen Glaubens und unmoralischen Benehmens. Sie nähren und formen auch die öffentliche Wahrnehmung der neuen Religion als gefährliche Bedrohung religiöser Freiheit und ziviler Ordnung. In Anbetracht dieser negativen Presse werden oft sogar jene Apostaten, die nicht unter den direkten Einfluss von Anti-Sekten-Organisationen oder fundamentalistischen religiösen Gruppen fallen, durch deren negativen Darstellungen der Religion, die sie verlassen haben, beeinflusst.

V.SCHLUSSFOLGERUNGEN
Die obige Analyse zeigt klar, dass Apostasie bei den neuen religiösen Bewegungen zwar in bestimmtem Maße vorkommt, dass die überwältigende Mehrheit der Menschen, die sich von diesen nicht angepassten Religionen löst, jedoch keinen anhaltenden Groll gegen ihre früheren religiösen Verbindungen und Aktivitäten hegt. Während sie offen erklären, inwiefern ihre religiösen Bedürfnisse und Hoffnungen enttäuscht wurden, waren sie doch in der Lage, einigen positiven Sinngehalt und Wert aus ihren vergangenen Erfahrungen zu ziehen. Im Gegensatz dazu gibt es eine viel kleinere Zahl von Apostaten, die intensiv damit beschäftigt sind, die religiösen Gemeinden, denen sie einst ihre Treue geschworen haben, in Verruf zu bringen oder gar zu zerstören. Diese Apostaten wurden meist entweder durch das Eingreifen von Familienmitgliedern und Anti-Sekten-Gruppen gewaltsam von ihrer religiösen Gemeinde getrennt, oder sie kamen bald nach ihrer freiwilligen Abtrünnigkeit von einer neuen religiösen Gruppe unter den Einfluss von Anti-Sekten-Gruppen und -Schriften.

Man kann nicht leugnen, dass diese engagierten und unerbittlichen Gegner der neuen Religionen aufgrund ihrer schnellen Verfügbarkeit und ihres Eifers, als Zeugen gegen ihre früheren religiösen Verbindungen und Aktivitäten auszusagen, der Öffentlichkeit, der Akademie und den Gerichten ein verdrehtes Bild der neuen Religionen präsentieren. Solche Apostaten handeln immer mit dem Hintergedanken, sich dadurch zu rechtfertigen, dass sie die Verantwortung für ihre Taten der religiösen Gruppe zuschieben. Tatsächlich sind die verschiedenen Gehirnwäsche-Szenarien, die so oft gegen die neuen religiösen Bewegungen heraufbeschworen werden, von Sozialwissenschaftlern und Religionswissenschaftlern überwiegend abgelehnt worden. Sie sehen sie als nichts anderes als kalkulierte Bemühungen, die Vorstellungen und Praktiken unkonventioneller Religionen in den Augen staatlicher Behörden und öffentlicher Meinung in Verruf zu bringen. Solche Apostaten können von verantwortungsbewussten Journalisten, Wissenschaftlern oder Juristen kaum als zuverlässige Informanten angesehen werden. Sogar die Berichte freiwilliger Abtrünniger, die keinen Groll hegen, sind nur mit Vorsicht zu gebrauchen, da sie ihre vergangene religiöse Erfahrung im Licht gegenwärtiger Bemühungen interpretieren, ihre Selbstidentität und Selbstachtung wiederherzustellen.

Kurz gesagt erfüllen die Apostaten der neuen Religionen insgesamt betrachtet nicht den Standard persönlicher Objektivität, professioneller Qualifikation und informierten Verstehens, wie sie bei Sachverständigen erforderlich sind.

Lonnie D. Kliever
Dallas, Texas
24 Januar 1995

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Die Verlässlichkeit der Zeugenaussagen von Apostaten über neue religiöse Bewegungen
The Reliability of Apostate Testimony about New Religious Movements