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„Der religiöse Charakter der Scientology“ von Geoffrey Parrinder

I. Einführung
Ich muss klarstellen, dass ich kein Scientologe bin. Im Gegenteil, ich bin seit mehr als vierzig Jahren ein ordinierter methodistischer Pfarrer. Ich plädiere nicht für die Glaubensvorstellungen und Praktiken der Scientology und könnte einigen davon kritisch gegenüberstehen. Aber ich bin interessiert an religiöser Freiheit, die für eine demokratische Gesellschaft essentiell ist.

Im Jahre 1971 wurde ich von Vertretern der Scientology kontaktiert, da mein Interesse an der Bedeutung von Religion aus meinen Schriften und aufgrund meiner Position als Professor für Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität London bekannt war. Ich studierte Literatur, die mir zugeschickt wurde, und hielt es für angebracht, Informationen aus erster Hand zu erlangen, indem ich mich mehrmals mit Repräsentanten der Bewegung traf und ihren britischen Hauptsitz besuchte.

Saint Hill Manor in East Grinstead ist ein altes, vergrößertes Gebäude mit angemessenen, aber nicht sehr ausgedehnten Anlagen. Mein Besuch war vorher vereinbart, aber ich traf – wie es öfter vorkommt – eine halbe Stunde zu früh ein und war in der Lage, einige Zeit lang alleine herumzuwandern. Aufgrund von Gerüchten über die Scientologen hatte ich mir beinahe vorgestellt, dass es am Eingang einen Wächter geben würde, oder sogar Wachhunde, aber alles war offen und ich fuhr unbemerkt auf den Parkplatz. Ich ging dann in die Gebäude, in denen Studenten an der Arbeit waren, sah offene Klassenzimmer und betrat schließlich die Kapelle, die wie so manches Gebäude der Freikirche aussah.

Es gab Bilder von Ron Hubbard an zahlreichen Stellen, und Texte an den Wänden deuteten beinahe auf seine Präsenz hin, wie zum Beispiel der Hinweis „Rennen Sie nicht, Sie könnten mit Ron zusammenstoßen“. Als der Chor die Kapelle betrat, waren einige auffallende Worte in seiner Prozessionshymne zu vernehmen: „Dieser Mann allein machte den Weg bekannt.“ Hier ertönt die Stimme des religiösen Dogmatismus. Es mag sein, dass Ron Hubbard, wie Buddha, eine übernatürliche Autorität verliehen werden wird und er sogar zu einer Gottheit werden wird, zumindest in der Funktion, wenn nicht in der Theorie. Aber es gibt andere Glaubensartikel, die dieser Tendenz entgegenlaufen. Der Gottesdienst am Sonntagnachmittag war voll mit Menschen aller Altersgruppen, die gutgelaunt und aufgeschlossen waren. Richter Ashworth stellte fest: „Der Geistliche steht den Leuten gegenüber und sagt ‚Hallo‘ zu ihnen“, aber dies ist in Kirchen verschiedener Konfessionen so üblich. Der Geistliche trug ein Kollar und eine Art Kreuz oder Henkelkreuz, aber dies sind äußere Zeichen einer Religion, nicht ihre Substanz. Es gab Hymnen, eine Zeit der Stille, die ein Gebet enthielt, und eine Predigt, die mehrmals Gott erwähnte.

II. Der Platz Gottes im Glauben der Scientology
Der Platz Gottes in den Glaubensvorstellungen der Scientology scheint nicht dominant zu sein, wie dies im Christentum, im Judaismus und im Islam der Fall ist, aber er ist eindeutig vorhanden. Im Buch The Scientology Religion definiert das Kapitel über Doktrin und Praxis ihre Aufgabe so: „Dem Individuum zu helfen, sich bewusst zu werden, dass es selbst ein unsterbliches Wesen ist, und ihm zu helfen, die grundlegenden Wahrheiten im Hinblick auf sich selbst, auf seine Beziehungen zu anderen … und das Höchste Wesen zu erlangen und zu verwirklichen.“ Hier und in der Form des üblichen Sonntagsdienstes wird festgestellt, dass „wir seine Sünde auslöschen wollen, damit der Mensch gut genug sein kann, um Gott zu erkennen“, und „Der beste Nachweis für Gott ist für den Menschen der Gott, den er in sich selbst findet“. Es ist zu erkennen, dass die Lehre von Gott im Menschen und von der Reinkarnation die Scientology mit fernöstlichen und indischen Formen des religiösen Denkens verbindet. So äußert sie das Ziel „individueller Erlösung in Harmonie mit anderen Lebensformen, dem physikalischen Universum und letzten Endes mit dem Höchsten Wesen. Wir finden in dieser östlichen Tradition den Hintergrund der Scientology.“

Von Gott wird als der Achten Dynamik gesprochen, der höchsten Ebene der Wirklichkeit, zu der man gelangt, wenn die Siebte Dynamik, das spirituelle Universum, „in seiner Gesamtheit erreicht“ ist. Gott und das geistige Universum werden auch „als Theta-Universum klassifiziert“, und Theta oder Thetan wird als „Geist“ und als „die Person selbst“ beschrieben. Es gibt einen beständigen Nachdruck auf der Auffassung vom Menschen als einem spirituellen Wesen und die Ablehnung von materialistischen Erklärungen der menschlichen Entstehung. Der Mensch ist unsterblich, er hat unzählige Leben gelebt und er kann zu Gott emporsteigen. Dies ähnelt zugegebenermaßen einigen indischen Glaubensvorstellungen und es ist wichtig im Hinblick auf den Anspruch der Scientology, eine Religion zu sein.

III. Zeremonien und ihre Bedeutung
Eine Eheschließung, die landläufig als eine religiöse und in der Kirche zu vollziehende Zeremonie angesehen wird, ist nicht in erster Linie religiös. Sie ist ein weltlicher Vertrag zwischen zwei einwilligenden Parteien und in Anwesenheit zweier Zeugen. Die frühe Kirche erkannte dies und folgte der staatlichen Praxis während mehrerer Jahrhunderte, wenn auch oft mit einem späteren kirchlichen Segen. Erst das Konzil von Trent entschied nach der Reformation, dass eine christliche Heirat in einer Kirche und von einem Priester vollzogen werden muss. Moderne Protestanten und Missionare, die den Konvertiten eine kirchliche Heirat aufzuerlegen versuchten, folgten damit den Dekreten von Trent. Selbst wenn die Heirat als ein Sakrament betrachtet wird, so sind ein Priester und eine Kirche für ihre Gültigkeit in der christlichen Theologie nicht entscheidend. Die Zelebranten des Sakraments sind der Ehemann und die Ehefrau, die ein gegenseitiges Gelübde ablegen, und dies kann in gewissenhafter Weise an jedem Ort geschehen.

Es gibt zahlreiche Länder, die eine christliche Tradition besitzen, jedoch darauf bestehen, dass Trauzeremonien von einer weltlichen Autorität, einem Standesbeamten, Magistrat oder Bürgermeister durchgeführt werden. Selbst dort, wo es eine etablierte Kirche gibt, können Trauungen in anderen kirchlichen Räumen oder von einem Standesbeamten vollzogen werden. Es ist daher nicht die kirchliche Zeremonie der Eheschließung der Scientology, bei der wir nach einem Beweis für religiösen Glauben und Brauch suchen sollten.

Die zwei bedeutendsten Gottesdienste sind die Taufe oder Namensgebung von Kindern, und das Begräbnis der Verstorbenen. Die damit verbundenen Glaubensvorstellungen reichen tief in unsere Natur und Geschichte und bilden die am weitesten verbreiteten Sakramente der Menschheit. Die Scientology glaubt an den Thetan, ihr eigenes Wort für die unsterbliche Seele, das vom achten Buchstaben des griechischen Alphabets, theta, abgeleitet ist, vielleicht auch angesichts dessen symbolischer ovaler Form. Der Gottesdienst besagt, dass „es der Hauptzweck einer Namensgebungszeremonie ist, der Orientierung des Thetans Hilfestellung zu leisten. Er hat vor kurzem seinen neuen Körper übernommen“. Der Thetan wird seinem Körper, seinen Eltern und seinen Paten vorgestellt. Offensichtlich handelt es sich hier um eine geistliche und nicht um eine materialistische Zeremonie.

In ähnlicher Weise erhebt der Begräbnisgottesdienst der Scientology geistliche Ansprüche. Der Seele wird zu einem zukünftigen Leben geholfen: „Geh nun, lieber (Verstorbener), und lebe noch einmal, in einer glücklicheren Zeit und an einem glücklicheren Ort.“ Der Glaube an eine Art spiritueller Natur im Menschen, die den Tod überlebt, ist vielleicht die älteste und gängigste religiöse Glaubensvorstellung der Menschheit. Es gibt wahrscheinlich keinen Stamm oder kein Volk, das nicht in der einen oder anderen Form an ein Leben nach dem Tode geglaubt hat, und das Vorhandensein einer solchen Glaubensvorstellung ist ein sehr deutliches Zeichen einer Religion.

Die alten Ägypter (nicht die modernen, die Moslems sind) glaubten an Seelen und Götter und waren religiös, wie es die Buddhisten sind, die streng genommen weder an das eine noch das andere glauben, zumindest nicht in einem westlichen Sinne. Aber beide besaßen Rituale, denen sich Scientology bewusst annähert.

IV. Der religiöse Charakter der Glaubensvorstellungen der Scientology
Wenn Scientology mit anderen weltlichen Organisationen verglichen wird, dann wird der religiöse Charakter einiger ihrer Glaubensvorstellungen schnell deutlich, selbst wenn sie bisher noch keine komplexe Theologie entwickelt hat. Sie unterscheidet sich beträchtlich von politischen Organisationen, die kein besonderes Interesse an unsterblichen Seelen besitzen. In ähnlicher Weise unterscheidet sie sich von geselligen Vereinigungen, wie den Oddfellows oder dem Loyal United Order der Angelsachsen. Sie ähnelt eher der Freimaurerei, die an Gott, den göttlichen Architekten und an geistige Wesen glaubt. Aber Freimaurer haben oft behauptet, dass ihre Organisation keine Religion sei. In weiten Teilen Europas war die Freimaurerei, zumindest bis vor Kurzem, stark antiklerikal, eine Art von irreligiöser Religion. Aber in Großbritannien und in den Vereinigten Staaten waren Freimaurer oft auch Mitglieder etablierter Kirchen und hatten den Wunsch zu zeigen, dass sie keiner rivalisierenden Religion Folge leisteten, sondern einem moralischen Kodex und der Unterstützung wahrer Religion.

Des Weiteren kann kurz auf altertümliche und moderne religiöse Bewegungen verwiesen werden. Die Dschaina in Indien glauben an viele Seelen, aber nicht an Gott, und werden trotzdem als Religion betrachtet. Die Buddhisten glauben weder an einen Höchsten Gott, noch an eine beschreibbare Seele, auch wenn es Unterschiede zwischen Theorie und Praxis gibt, aber sie sind eine der größten missionarischen Weltreligionen. Viele hinduistische Denker der Wedanta sind keine Dualisten und glauben, dass das Menschliche und das Göttliche eins sind, da die individuelle Seele die universale Seele ist. Dies ist nicht Gott im christlichen oder abendländischen juristischen Sinne, und trotzdem gilt der Hinduismus als eine Weltreligion. In der heutigen Zeit hat der indische Neo-Wedismus einen großen Einfluss in Europa und Amerika erlangt, da seine Lehren sowohl vom starren Dogma der meisten westlichen Religionen als auch vom Materialismus eines großen Teils der modernen Wissenschaft abweichen.

Die Scientology scheint von Anfang an und als grundlegende Doktrin eine geistige Haltung zum Leben angenommen zu haben. „The Founder and Aims“ [Der Gründer und die Ziele] erklären, dass es das Ziel sei, den Menschen von der Sklaverei zu befreien, die „ihn auf den Status von Zellen, Gehirn und Körper zu reduzieren suchte, eine ‚wissenschaftliche‘ Lüge, die dem Menschen unermesslichen Schaden zugefügt hat und, falls sie nicht korrigiert wird, irgendwann zur völligen Vernichtung führen wird“, und dann erneut, „dass der Mensch in erster Linie ein Geist ist, unsterblich und im Grunde unzerstörbar“.

V. Schlussfolgerung
Die Erklärung über Doktrin und Praktik in The Scientology Religion beginnt mit einer kurzen Bestätigung ihres geistigen Charakters und geht danach sofort dazu über, den Hintergrund der Bewegung zu erörtern, mit besonderen Abschnitten über den Hinduismus und den Buddhismus. Es ist offensichtlich, dass der Begründer und die späteren Mitarbeiter von der Lektüre dieser asiatischen Religionen beeinflusst wurden und dass sie darin weit verbreitete Strömungen in der modernen Gedankenwelt reflektieren. Seit über einem Jahrhundert ist der Einfluss asiatischer, insbesondere indischer Ideen in Europa und Amerika sehr machtvoll, und dies wirkt sich auf das Verständnis von Religion aus. Religion beschäftigt sich mit der spirituellen Beschaffenheit des Menschen und mit dem Objekt seiner Anbetung, ob dies nun Gott oder das Absolute oder Buddha ist. Es kann sein, dass Scientology im Verlauf ihrer Entwicklung stärker den Platz des Höchsten Wesens betonen wird, nicht nur als das Ziel, sondern auch als die Quelle und die stärkende Kraft allen menschlichen Strebens. So wie die Dinge liegen, stimmt die alles durchdringende Lehre von der geistigen Natur des Menschen und seinem unzerstörbaren inneren Wesen mit einem beträchtlichen Teil in einigen der großen Weltreligionen überein.

Geoffrey Parrinder
1977

 

BIOGRAFIE
Geoffrey Parrinder, Ph.D., (1910-2005) war Professor der Vergleichenden Religionswissenschaften am King’s College in London, unter dessen frühen Schülern auch der spätere Bischof Desmond Tutu war. Fast zwei Jahrzehnte lang arbeitete er als christlicher Missionar im Bereich von Benin und der Elfenbeinküste. In dieser Zeit wurde er zu einer Autorität auf dem Gebiet der dort einheimischen westafrikanischen Religionen. Er war ebenfalls weltbekannt für seine Fachkompetenz im Bereich des Hinduismus. Dr. Parrinder verfasste den Bestseller What World Religions Teach Us (Was uns Weltreligionen lehren) (1968). Dies war nur eines seiner mehr als 30 Bücher im Gebiet der Religion. Andere waren West African Religion (Westafrikanische Religionen) (1949), The Story of Ketu (Die Geschichte von Ketu) (1956), Man and His Gods (Die Menschheit und ihre Götter) (1971), A Dictionary of Non-Christian Religions (Ein Wörterbuch der Nichtchristlichen Religionen) (1973), Avatar and Incarnation: A Comparison of Indian and Christian Beliefs (Avatar und Inkarnation: ein Vergleich indischer und christlicher Überzeugungen) (1970), The Bhagavad Gita: A Verse Translation (Die Bhagavad Gita: Eine Übersetzung der Verse) (1974), und Sexual Morality in the World Religions (Sexuelle Moral in den Weltreligionen) (2003). Er diente in zahlreichen professionellen akademischen Gesellschaften und war ein Gründungsmitglied der britischen Vereinigung für das Studium der Religionen (BASR – British Association for the Study of Religion).

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Der religiöse Charakter der Scientology
The Religious Nature of Scientology