Über die Glaubwürdigkeit von Aussteigern aus religiösen Gemeinschaften

Verschiedene Religionswissenschaftler haben Studien über die Glaubwürdigkeit und Motive von sogenannten Apostaten (vom Glauben Abgefallene) veröffentlicht, über Menschen, die nach der Aufgabe ihrer religiösen Überzeugungen meist massiv an der Zerstörung ihrer früheren Gemeinschaft arbeiten. Die Experten geben erstmalig einen Einblick in den enormen Schaden, der durch die Erzählungen von Apostaten verursacht werden kann.

Wie Lonnie D. Kliever, Professor für Religionswissenschaft mit Lehrstuhl an der Southern Methodist University in den USA, dazu ausführt, leitet sich „das Wort Apostasie vom griechischen apostasia ab, was ursprünglich Aufstand oder Abspaltung bedeutete. Im Religionsbereich bezeichnet es die freiwillige Aufgabe seiner Religion“.

Vorurteile gegenüber Religionsgemeinschaften entstehen meist durch Unwissenheit über die Gemeinschaft selbst und ihre tatsächlichen Aktivitäten — und können meist auf die Verbreitung von Falschinformationen durch ehemalige Mitglieder — oder „Abtrünnige“ — zurückgeführt werden.

Bryan Ronald Wilson, Emeritierter Professor für Soziologie an der Oxford University, untersucht seit mehr als 40 Jahren Religionsgemeinschaften in Europa, Nordamerika, Australien, Asien und aus anderen Teilen der Welt. Jüngst beschrieb er beispielsweise die Rolle von „Abtrünnigen“ in der Verbreitung von Vorurteilen gegenüber Katholiken in Amerika:

„Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, den Krisenzeiten des christlichen Glaubens, gab es einige oftmals zitierte Fälle von Abtrünnigkeit von der römisch-katholischen Kirche. Sie wurden als Folge dessen dargestellt, daß die römisch-katholische Kirche strenge Anforderungen an Glauben und Glaubensausübung stellt, weil sie sich modernen Strömungen widersetzt und insbesondere weil sie die eifrigsten ihrer Gläubigen ermutigte, Klöstern oder Kongregationen beizutreten. Manche der finsteren Geschichten über das klösterliche Leben von abtrünnigen Mönchen oder Nonnen — der Fall der Maria Monk* wurde weit verbreitet — stellten sich als weitgehend fiktiv heraus, wurden aber von den anti-katholischen Propaganda-Medien oft aufgegriffen.“

In den Jahren nach der Veröffentlichung der Lügen in Maria Monks Buch* wurden in Philadelphia Anhänger der römisch-katholischen Kirche auf offener Straße gejagt und erschossen und ihre Häuser und Kirchen verbrannt. Im US-Staat Maine wurde ein Priester ausgezogen, geteert und gefedert und verstümmelt. Und obwohl die Drahtzieher bekannt waren und ein Schwurgericht einberufen wurde, gab es weder Verhaftungen noch Verurteilungen.

Anfälligkeit für Vorurteile

In einer Hetzkampagne findet sich oft ein Körnchen Wahrheit, eingewebt wie ein dünner Faden in einen Teppich aus extremen Lügen und Übertreibungen. Dieses Körnchen Wahrheit, das die Kampagne anscheinend rechtfertigt, wird von ehemaligen Mitgliedern oft zusammen mit einem ganzen Bündel von Unwahrheiten gegen die jetzt zum Feind erkorene Gruppe vorgebracht. In Wirklichkeit entfacht der Apostat eine Kontroverse und hält sie dann mit Lügen und Unterstellungen am Leben.

Das bekannte Sakrament der Kommunion in christlichen Kirchen liefert ein anschauliches Beispiel dafür, wie diese Mechanismen funktionieren. Die frühen Christen wurden von Griechen und Römern des Kannibalismus bezichtigt, da man glaubte, sie äßen tatsächlich Fleisch und tränken Blut. Das Körnchen Wahrheit war natürlich, daß Brot und Wein das Fleisch und Blut Christi symbolisieren. Aber ohne Rücksicht darauf, wie winzig das Körnchen Wahrheit auch war, der Mechanismus funktionierte.

Im Verlauf der Geschichte gab es immer wieder Gerichte, die religiösen Vorurteilen und Verfolgungen Vorschub leisteten. Judas, der erste Abtrünnige des Christentums, wurde von der Regierung und den Gerichten seiner Zeit dazu mißbraucht, Christus zu verraten. Er wiederum benützte die Obrigkeit, um sich an diesem Verrat zu bereichern.

Jahrhundertelang verurteilten Gerichte unschuldige Menschen als „Hexen“ und überantworteten sie dem Scheiterhaufen. Ebenso wurden bekannte Religionsführer von Gerichten zu schrecklichen Todesarten verurteilt, unter anderem Strangulieren, Enthauptung oder Verbrennung bei lebendigem Leibe.

Im 18. Jahrhundert wurden Methodisten mit Billigung der Richterschaft überfallen und ihre Gebetshäuser angezündet. Ein Jahrhundert später wurden Mitglieder der Heilsarmee wegen Täuschung und finanzieller Ausbeutung verurteilt und unter aufgebauschten Anklagen wie „Behinderung des Straßenverkehrs“ ins Gefängnis geworfen, während Mormonen ohne Vorwarnung erschossen wurden.

In unserem Jahrhundert haben Abtrünnige und Betrüger die Unwissenheit der Gerichte in religiösen Fragen dazu genutzt, anschauliche aber völlig falsche Vorstellungen zu erzeugen. Einen grauenerregenden Höhepunkt erreichten die Hetzkampagnen gegen Religionsgemeinschaften im Dritten Reich, wo religiöse und ethnische Gruppen einem bösartigen Prozeß der Entmenschlichung ausgesetzt waren, als Vorbereitung für die Abschlatung von Millionen von Menschen.

Professor Wilson stellt fest:

„Der Abtrünnige braucht im allgemeinen eine Selbstrechtfertigung. Er muß seine eigene Vergangenheit neu konstruieren, um seine frühere Verbindung zu entschuldigen, und die zu beschuldigen, die ehedem seine engsten Vertrauten waren.“

„Es ist nicht unüblich, daß der Abtrünnige eine Schauergeschichte einstudiert, um zu erklären, wie er mittels Manipulation, Tricks, Zwang oder Täuschung dazu verführt wurde, sich einer Organisation anzuschließen oder ihr treu zu bleiben, der er jetzt abschwört und die ier verdammt. Abtrünnige, von der Presse zur Sensation hochstilisiert, haben manchmal auch versucht, aus dem Verkauf ihrer Erlebnisberichte an Zeitungen oder Verlage Kapital zu schlagen.“

„Weder der objektive soziologische Forscher noch Gerichte können den Abtrünnigen als verläßliche Quelle für Beweise betrachten. Er muß immer als jemand gesehen werden, dessen persönliche Vergangenheit ihn für Voreingenommenheit sowohl in Bezug auf seine vorherige religiöse Überzeugung als auch in Bezug auf seine früheren Kameraden prädestiniert. Wenn er so bestrebt ist, gegen seine früheren Kameraden und Mitglieder auszusagen, muß der Verdacht aufkommen, daß er aus persönlichen Motiven heraus handelt, um sich zu rechtfertigen und seine Selbstachtung zurückzugewinnen — indem er sich zuerst als Opfer darstellt, das in der Folge aber ein reuiger Kreuzfahrer geworden ist. Wie verschiedene Fälle zeigten, ist er leicht beeinflußbar und bereit, seine Leiden zu vergrößern oder auszuschmücken, um die Art von Journalisten zu befriedigen, deren Interesse mehr einer Sensationsberichterstattung gilt als einer objektiven Darstellung der Wahrheit.“

Wissenschaftler haben immer wieder auf den notorisch unzuverlässigen Charakter von Zeugenaussagen ehemaliger Mitglieder jeglicher Religion hingewiesen. Trotzdem gelang es, durch die Behauptung aller erdenklichen Mißbräuche — die zu einem grotesken und ekelerregenden Bild der Religion führten, das nicht das Geringste mit der Wirklichkeit zu tun hat — vor den Gerichten eine vorurteilsbehaftete Atmosphäre zu schaffen.

Professor Wilson zufolge haben Soziologen seit langem die „besondere Konstellation der Motive“ erkannt, die Abtrünnige zu Handlungen gegen ihre ehemalige Religionsgemeinschaft veranlassen.

Die den Zeugenaussagen von Ex-Mitgliedern oder Abtrünnigen eigene Unzuverlässigkeit wurde auch in einer wissenschaftlichen Arbeit von Professor Kliever beschrieben:

„Es ist unbestritten, daß diese eifrigen und starrköpfigen Gegner neuer Religionen — aufgrund ihrer leichten Verfügbarkeit und ihrer großen Bereitschaft zur Zeugenaussage gegen ihre früheren religiösen Gemeinschaften und Aktivitäten — der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und den Gerichten eine verdrehte Ansicht von neuen Religionen präsentieren.“

„Solche Abtrünnige handeln immer im Rahmen eines Szenarios, das sie selbst reinwäscht, indem es die Verantwortung für ihre Taten der religiösen Gemeinschaft aufbürdet. In der Tat wurden die verschiedenen Gehirnwäsche-Szenarios, die den neuen religiösen Bewegungen so oft vorgeworfen wurden, von der überwältigenden Mehrheit der Sozial- und Religionswissenschaftler als lediglich kalkulierte Versuche zurückgewiesen, den Glauben und die Praktiken unkonventioneller Religionen in den Augen von Behörden und der öffentlichen Meinung zu diskreditieren. Insofern können Abtrünnige von verantwortungsbewußten Journalisten, Wissenschaftlern oder Juristen kaum als verläßliche Informanten betrachtet werden.“

Trotzdem wurden solche Abtrünnige in der Vergangenheit fälschlicherweise als „zuverlässige Informationsquellen mit Insiderwissen“ betrachtet. Aufgrund der wissenschaftlichen Befunde von Experten wie den obigen, die dieses Phänomen in einem neuen Licht erscheinen lassen, werden Religionen in Zukunft hoffentlich nach ihren eigenen Schriften und Handlungen beurteilt und nicht nach den Erzählungen verbitterter Ex-Mitglieder.

* Ein ehemaliges Mitglied der Römisch-Katholischen Kirche, die zusammen mit ihrem Mann im Jahre 1836 das Buch Die schrecklichen Enthüllungen der Maria Monk veröffentlichte, das ihre sieben Jahre als Nonne in Montreal in Kanada beschreibt. Es wurde mehr als 300 000 mal verkauft und erzeugte eine katholikenfeindliche Stimmung. Später stellte sich heraus, daß der Bericht sehr viele Lügen enthielt.

Quelle: Gleichnamiger Artikel aus dem Magazin Freiheit: „Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer belügt das ganze Land?“ (1996)